Ich blicke zurück

Morgen ist das erste Weihnachtsfest, das Sohn und ich ohne Michael feiern werden. Meine Familie ist zu Besuch in Hamburg, wir sind also nicht alleine. Meine Eltern gehen einkaufen, kochen, haben einen Weihnachtsbaum besorgt und Plätzchen gebacken. Sie umsorgen uns.

Ich blicke auf ein Jahr zurück, das schrecklicher nicht hätte sein können. Mein Mann ist tot, der Vater meines Sohnes. Wir waren glücklich als er starb. Wir hatten uns gefunden. Ich habe mir nie die Frage gestellt, warum ausgerechnet mein Mann gestorben ist. Warum ausgerechnet mein Kind seinen Vater verlieren musste. Ich habe seinen Tod akzeptiert, obwohl ich immer wieder das Gefühl habe, gleich kommt er zur Tür rein oder er wartet schon in der Küche auf mich. Die Trauerwellen sind immer noch da. Trotz neuer Liebe.

Wenn ich auf dieses furchtbare Jahr zurückblicke bin ich aber auch dankbar. Für meine Eltern, die mir bedingungslos zur Seite standen. Für unsere Freunde, die Sohn und mich in den traurigsten Momenten begleitet haben und bei uns waren. Die mir viele Dinge abgenommen haben, als ich wie betäubt zu Hause saß. Aus den Gesprächen mit anderen Witwen und Witwern weiß ich, dass dies nicht selbstverständlich ist. Ich bin dankbar für Freunde und Bekannte, die immer wieder anrufen oder schreiben, auch wenn ich mich nicht zurückmelde. Ich bin dankbar für Nachbarn, die sich um unsere Katzen kümmern, wenn wir das Wochenende nicht da sind und für uns auch noch etwas zu essen hinstellen.

Wenn wir morgen unter dem Weihnachtsbaum sitzen, wird das Bild von Michael neben uns stehen. In Gedanken ist er sowieso immer bei uns. Wir zünden eine Kerze für ihn an und meine Mutter und unser Sohn werden Weihnachtslieder auf der Harfe und am Klavier spielen. Das hätte Michael gefallen. Wir werden ein Glas auf ihn trinken. Und ich werde wieder dankbar sein. Für unseren Sohn, der seinem Vater so unglaublich ähnlich ist und für 14 Jahre, die wir zusammen verbringen durften.

Glück

Ich werde den ein oder anderen Menschen damit vielleicht vor den Kopf stoßen. Aber es ist wie es ist: Ich bin verliebt. Es hat sich seit einigen Wochen vorsichtig angedeutet, auch wenn mir allein die Vorstellung mich nach so kurzer Zeit auf einen anderen Menschen einzulassen, völlig absurd erschien.

Ich bin verliebt, aber ich weine dennoch um Michael. Er fehlt mir auch unverändert. Und wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich immer sagen, alles soll wieder so sein wie früher. Aber ich habe keinen Wunsch frei. Stattdessen habe ich das Glück einen besonderen Menschen getroffen zu haben. Der mir zeigt, dass ich noch lebe. Dass ich nicht mit Michael gestorben bin, auch wenn es sich anfangs so anfühlte. Dafür bin ich dankbar.

Und es ist mir ehrlich egal, wenn vielleicht manche Menschen jetzt denken: So schnell? Wahrscheinlich hat sie ihn nie richtig geliebt. Vielleicht war die Ehe nicht glücklich. Das kann keine echte Liebe gewesen sein. All diesen Gedanken kann ich nur entgegnen: Ihr habt keine Ahnung und ihr könnt euch nicht in mich hineinversetzen. Mich interessiert nur die Meinung meines Sohnes. Und wir beide sind uns sehr einig.