Ein Jahr mit dem Tod

Heute vor einem Jahr war die Urnenbeisetzung. Als ich heute im Regen am Grab stand dachte ich daran, wie wir vor 12 Monaten im kleinen Kreis um dieses Loch in der Erde standen. Die weiße Urne kam hinein, Bilder, Blumen, Sand von seiner Lieblingsinsel und ein Schluck Champagner, mit dem wir auf Michael anstießen. Dann kam die Erde darüber. Ein Meer aus Blumen lag um das Grab herum und ich dachte immer „Das kann doch alles nicht wahr sein. Ich muss träumen. Dieser Albtraum muss doch endlich vorbei gehen.“

Heute weiß ich: Der Albtraum hört nicht auf. Er wird erträglicher. Sehnsucht und Trauer bleiben ständige Begleiter, aber die tiefe Verzweiflung wandelt sich langsam. Bei mir hat auch die Wut abgenommen. Wut auf diese Ungerechtigkeit, warum ausgerechnet mein geliebter Mann mit 42 Jahren sterben musste, warum mein Sohn nur 12 Jahre lang seinen Vater hatte, warum ich nur 14 Jahre mit Michael erleben durfte.

Inzwischen denke ich: Was für ein Glück, dass ich Michael überhaupt kenngelernt habe, dass wir uns zufällig über den Weg gelaufen sind. 14 Jahre sind besser als nichts. Und wir haben ein tolles Kind zusammen. Immerhin hatte Sohn 12 Jahre einen Vater. Er wird sich immer an ihn erinnern können. Immerhin hatten wir uns, als Paar, als Familie, wenn auch nicht so lange wie ich mir das ausgemalt hatte.

Dankbarkeit fühlt sich besser an als Wut.

 

Trauerfeier

Heute vor einem Jahr .. so beginnen gerade viele meiner Einträge.

Heute vor einem Jahr war die Trauerfeier für Michael. Es hat geregnet, die Kapelle war völlig überfüllt, ich hatte große Angst vor diesem Tag, vor den ganzen Menschen. Mein Sohn saß neben mir, tröstete mich und andere und weinte selbst keine Träne. Das kam erst später. Ich kann mich nur noch an Bruchstücke erinnern.

Gestern saß ich in der U-Bahn und plötzlich dachte ich, ich sehe Michael einsteigen. Dieses Gefühl hatte ich kurz nach seinem Tod öfter. Aber nun schon länger nicht mehr. Bis gestern. Ich träume auch ab und zu von ihm. Diese Träume fühlen sich sehr echt an. Wenn ich aufwache ist es als würde er noch leben. Dann setzt die Realität ein.

Gestern Abend war ich zufällig in einem Restaurant essen, wo ich zuletzt am Tag unserer Hochzeit vor 14 Jahren war. Die Location ist eine andere, die Einrichtung neu, das Personal neu, aber dennoch: Als ich das Logo auf der Speisekarte sah, musste ich sofort an unseren Hochzeitstag denken. Damals war ich – wie heute – hochschwanger. Nur saß ich dort gestern mit meinem neuen Partner. Mein Baby zappelte im Bauch und ich dachte daran, wie mein Sohn vor 14 Jahren gezappelt hatte, als sein Vater und ich uns trauen ließen.

Michael wird immer Teil unseres Lebens sein. Ich male mir in Gedanken auch schon aus, wie ich meiner Tochter (ja, ich bekomme ein Mädchen) von ihm erzählen werde. Ich bin traurig, melancholisch, dankbar und voller Liebe, alles gleichzeitig. Vor einem Jahr lag ich zerstört am Boden, inzwischen bin ich aufgestanden.

Die Neue

Gestern traf ich mich zum ersten Mal nach langer Zeit wieder mit einer Freundin. Wir hatten uns seit sechs Jahren nicht mehr gesehen, aber sie hatte über Ecken von Michaels Tod erfahren und sich daraufhin letztes Jahr wieder bei mir gemeldet. Sie erzählte mir von ihrer Freundin, die sehr jung gestorben ist und deren Mann auch bereits nach wenigen Monaten eine neue Partnerin hatte. Der Freundeskreis hatte damit ein großes Problem. Irgendwie kam mir das bekannt vor.

Wir haben darüber diskutiert, woran dieses „ich habe ein Problem damit“ liegen könnte und kamen zu dem Schluss, dass es eine Mischung aus mehreren Aspekten ist:

  • Die Kürze der Zeit. Offensichtlich wird erwartet, dass ein – wie auch immer gearteter – angemessener Zeitraum vergeht, ehe eine neue Partnerin denkbar ist.
  • Die Neue ist nicht die Alte: Wenn man ehrlich ist, haben die Freunde einfach keine Lust auf jemand neuen. Sie trauern um ihre tote Freundin und dafür kann es schlicht keinen Ersatz geben. Wozu sich also auf die neue Partnerin überhaupt einlassen? Sie kann der Verstorbenen eh nicht das Wasser reichen.

Das Ergebnis war im Fall meiner Freundin, dass der Witwer und seine neue Freundin auf Parties oder bei anderen Events das Gefühl bekamen: Ihr seid nicht willkommen. Einige Freunde zogen sich komplett zurück.

Meine Freundin sagte mir, für sie sei es am Anfang auch komisch gewesen, ihren Freund mit seiner neuen Partnerin zu sehen bzw. die neue Partnerin im Umgang mit dem Kind der verstorbenen Freundin zu beobachten. Aber dann hat sie sich gedacht: Hauptsache, es geht meinem Freund und seiner Tochter damit gut. Es ist seine Entscheidung und ich unterstütze ihn.

Ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte, wenn eine meiner Freundinnen gestorben wäre und ihr Mann hätte nach wenigen Monaten wieder eine neue Frau an seiner Seite. Aus heutiger Sicht sage ich natürlich: Ich würde versuchen, die beiden zu unterstützen und die neue Frau willkommen zu heißen. Wer sich auf eine Beziehung mit einem Witwer/einer Witwe mit Kind einlässt, wagt unglaublich viel. So viele Stolpersteine liegen auf dem Weg einer solchen Beziehung, da ist jede Hilfe, jedes positive Wort hilfreich. Aber ob ich das ohne den Tod von Michael und meine jetzigen Erfahrungen auch gesagt hätte? Ich bin mir nicht sicher.

Ein Jahr danach

Am 13. Mai jährte sich der Todestag von Michael zum ersten Mal. Der ganze Tag war geprägt von Erinnerungen und Gesprächen über ihn. Für mich war der Tag schlimmer als ich dachte. Für meinen Sohn weniger traurig als er erwartet hatte. Wir haben darüber gesprochen: Trauer verläuft eben individuell und lässt sich nicht an einem bestimmten Tag festmachen. Das wird Trauernden auch manchmal als Gefühlskälte ausgelegt – habe ich inzwischen schon öfter gehört.

Es haben sich wenige Freunde und kaum Verwandte anlässlich des Todestages bei uns gemeldet. Ich kann es an beiden Händen abzählen. Diese Reaktion kam aber nicht unerwartet. Umso mehr habe ich mich über jene Anrufe und Mails gefreut, die sich mit uns an Michael erinnert haben. Das Schweigen der anderen ist Mißbilligung über mein Leben, für das ich mich nach dem Tod von Michael entschieden habe. Oder sie haben es schlicht vergessen. Nicht jeder muss sich schließlich diesen Tag merken.

Von anderen Witwen bzw. Witwern weiß ich, dass die Reaktionen der Umwelt ein Jahr nach dem Tod oft so ausfallen: „Was trauerst Du denn noch? Es ist doch schon so lange her. Irgendwann muss es doch mal gut sein. Davon wird er/sie auch nicht mehr lebendig. Du musst ins richtige Leben zurückfinden.“ Als ob sich so etwas steuern ließe. Wer legt denn fest, wieviel Zeit für Trauer angemessen oder unangemessen ist? Nun, bei mir ist es genau umgekehrt. Ich trauere meiner Umwelt zu wenig, habe mein „altes Leben“ zu schnell abgehakt, habe meinen Mann anscheinend schon vergessen und gegen einen neuen ausgetauscht. Als ob so etwas überhaupt möglich wäre.

Offensichtlich hat jeder eine Meinung dazu, wie sich ein Trauernder zu verhalten hat. Traurig, aber nicht zu traurig (depressiv). Zurückgezogen, aber nicht zum Einsiedler werden. Den Verstorbenen angemessen in Erinnerung behalten, aber bitte nicht dauernd über ihn/sie sprechen, denn das nervt. Eine neue Beziehung? Ja, irgendwann, nach drei bis fünf Jahren vielleicht. Auf keinen Fall früher. Und bitte den Neuen/die Neue vorher vorstellen, um ihn/sie vom Umfeld begutachten zu lassen. So eine Entscheidung kann ja nicht einfach alleine gefällt werden…

Ein Jahr nach dem Tod von Michael habe ich gelernt: Konzentriere dich auf die schönen Momente im Leben. Gib Liebe und freue dich über Liebe, die du erfährst. Sei traurig, wenn dir danach ist. Nimm dir deine Zeit. Nicht zuletzt – und hier zitiere ich meine Mutter – pfeif auf das, was andere von dir erwarten. Du hast nur ein Leben.

Entscheidung

Vor einem Jahr musste ich mich mit der Entscheidung beschäftigen, wann die Geräte bei meinem Mann runtergefahren werden. Es war nach 9 Tagen auf der Intensivstation klar, dass es keine Chance auf Heilung geben wird. Im Gegenteil: täglich ging es ihm schlechter, immer mehr Organe versagten. Das Bewusstsein erlangte er gar nicht mehr. Auf einmal wurde ich damit konfrontiert zu entscheiden, wann er gehen muss. Das war ein unendlich grausamer Moment.

Da liegt der Vater meines Sohnes, mein geliebter Mann und ich soll nun auf einmal sagen: Morgen soll er gehen. Oder doch besser übermorgen? Die Diagnose war ja eindeutig und ich wusste, dass mein Mann auf keinen Fall nur von Geräten am Leben gehalten werden wollte. Vor einem Jahr stand ich plötzlich vor vielen Fragen: Wann lasse ich ihn gehen? Wie erkläre ich das unserem Sohn? Was ist richtig, was ist falsch? Warum muss ich das entscheiden? Wie kann ich morgens aufstehen und wissen, heute wird mein Mann sterben, weil ich es so festgelegt habe?

Am Ende hat mir Michael die Entscheidung abgenommen. Dafür bin ich unendlich dankbar.

Sie haben was gefunden.

Das waren genau heute vor 12 Monaten seine letzten Worte zu mir. „Ich fahre jetzt von der Praxis ins Krankenhaus. Mal sehen, wird schon werden.“ Hätte ich geahnt, was wird, wäre ich sofort ins Krankenhaus gerast und nicht erst einkaufen gegangen. Zwei Stunden später saß ich mit einer kleinen Reisetasche im Warteraum vor dem OP-Bereich. Ein Arzt klärte mich über den bevorstehenden Eingriff und die Risiken auf. Bis dahin hatte ich keine Ahnung wie ernst die Lage war. Und im Nachhinein stelle ich fest, dass ich nach diesem Gespräch große Zweifel hatte, ob Michael die OP überstehen wird.

Ich rief meine Mutter an, die sofort einen Zug nach Hamburg buchte. Ich rief eine Freundin an, die mich im Krankenhaus abholte und nach Hause brachte. Michael wurde die ganze Nacht operiert. Das war heute vor einem Jahr. Der Anfang vom Ende. Ich vermisse ihn sehr.

Heute vor einem Jahr

Heute vor einem Jahr haben wir als Familie den letzten Tag zusammen verbracht. Wir hatten ein intensives Mai-Wochenende und Michael wollte noch unbedingt auf ein Straßenfest gehen. Ich machte mir Sorgen, denn er machte beim Bummel über das Fest immer wieder eine Pause, als ob er sich ausruhen müsste. Aber da er am nächsten Tag sowieso einen Arzttermin hatte, wollte ich ihn nicht nerven.

Im Nachhinein habe ich mir viele Vorwürfe gemacht. Warum habe ich ihn nicht viel früher zum Arzt geschickt? Warum ist mir überhaupt nicht aufgefallen wie schwer krank er tatsächlich schon war? Ich weiß, dass diese Frage „Was wäre wenn,,,?“ nichts bringt. Es ändert überhaupts nichts an der heutigen Situation. Aber ich kann nicht anders.

Die aktuelle Phase zwischen 30.4. und 13.5. ist für mich sehr schwer. Ich kann mich an jeden Tag vor einem Jahr erinnern. Wie schön unser letztes gemeinsames Wochenende war. Wie plötzlich unsere Welt am 4.5. aus den Fugen geriet. Wie alles am 13. Mai auf einmal vorbei war. Ich habe viele Bilder vor Augen. Gespräche. Momente.

Den „Wonnemonat Mai“ gibt es für mich seit einem Jahr nicht mehr. Im Mai ist mein Mann gestorben. Im Mai ist ein Teil meines Lebens zu Ende gegangen.