Ein Jahr danach

Am 13. Mai jährte sich der Todestag von Michael zum ersten Mal. Der ganze Tag war geprägt von Erinnerungen und Gesprächen über ihn. Für mich war der Tag schlimmer als ich dachte. Für meinen Sohn weniger traurig als er erwartet hatte. Wir haben darüber gesprochen: Trauer verläuft eben individuell und lässt sich nicht an einem bestimmten Tag festmachen. Das wird Trauernden auch manchmal als Gefühlskälte ausgelegt – habe ich inzwischen schon öfter gehört.

Es haben sich wenige Freunde und kaum Verwandte anlässlich des Todestages bei uns gemeldet. Ich kann es an beiden Händen abzählen. Diese Reaktion kam aber nicht unerwartet. Umso mehr habe ich mich über jene Anrufe und Mails gefreut, die sich mit uns an Michael erinnert haben. Das Schweigen der anderen ist Mißbilligung über mein Leben, für das ich mich nach dem Tod von Michael entschieden habe. Oder sie haben es schlicht vergessen. Nicht jeder muss sich schließlich diesen Tag merken.

Von anderen Witwen bzw. Witwern weiß ich, dass die Reaktionen der Umwelt ein Jahr nach dem Tod oft so ausfallen: „Was trauerst Du denn noch? Es ist doch schon so lange her. Irgendwann muss es doch mal gut sein. Davon wird er/sie auch nicht mehr lebendig. Du musst ins richtige Leben zurückfinden.“ Als ob sich so etwas steuern ließe. Wer legt denn fest, wieviel Zeit für Trauer angemessen oder unangemessen ist? Nun, bei mir ist es genau umgekehrt. Ich trauere meiner Umwelt zu wenig, habe mein „altes Leben“ zu schnell abgehakt, habe meinen Mann anscheinend schon vergessen und gegen einen neuen ausgetauscht. Als ob so etwas überhaupt möglich wäre.

Offensichtlich hat jeder eine Meinung dazu, wie sich ein Trauernder zu verhalten hat. Traurig, aber nicht zu traurig (depressiv). Zurückgezogen, aber nicht zum Einsiedler werden. Den Verstorbenen angemessen in Erinnerung behalten, aber bitte nicht dauernd über ihn/sie sprechen, denn das nervt. Eine neue Beziehung? Ja, irgendwann, nach drei bis fünf Jahren vielleicht. Auf keinen Fall früher. Und bitte den Neuen/die Neue vorher vorstellen, um ihn/sie vom Umfeld begutachten zu lassen. So eine Entscheidung kann ja nicht einfach alleine gefällt werden…

Ein Jahr nach dem Tod von Michael habe ich gelernt: Konzentriere dich auf die schönen Momente im Leben. Gib Liebe und freue dich über Liebe, die du erfährst. Sei traurig, wenn dir danach ist. Nimm dir deine Zeit. Nicht zuletzt – und hier zitiere ich meine Mutter – pfeif auf das, was andere von dir erwarten. Du hast nur ein Leben.

4 Gedanken zu „Ein Jahr danach

  1. E. Schönfeld

    Ich bin Ihnen unendlich dankbar für diese Texte. Leider gibt es außer Beruhigungsmitteln keine „Schmerztherapie“ – aber die Erfahrung der „Anderen“

    Gefällt 1 Person

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