Papa wird sterben

Ich weiß nicht, wie andere Hinterblieben das empfinden, aber für mich war einer der schlimmsten Momente als ich unserem Sohn sagen musste, dass sein Vater wahrscheinlich sterben wird. Ich habe den Moment noch genau vor Augen. Unser Sohn war 12 Jahre alt. Michael war seit drei Tagen im Krankenhaus, lag noch in einer Art Koma, aus dem er nicht erwachte und der Arzt hatte mir zum ersten Mal gesagt, dass es leider eine hohe Wahrscheinlichkeit gibt, dass Michael den Eingriff nicht überleben wird. Ich hatte es irgendwie die ganze Zeit gefühlt. Als ich nach Hause kam, sprach ich mit Sohn. Er war geschockt und fassungslos und wollte unbedingt sofort zu seinem Vater ins Krankenhaus. Ich hatte das in einem älteren Beitrag schon einmal beschrieben.

An diesem Abend habe ich auch den Klassenlehrer informiert, das war zwei Tage, ehe die Pfingstferien anfingen. Unser Sohn ging nicht zur Schule, stattdessen war er mehrfach im Krankenhaus. Michaels Zustand schien sich daraufhin zu stabilisieren. Also entschieden wir: Sohn fährt mit Freunden in den Ferien nach Sylt. Was soll er auch die ganze Zeit mit mir im Krankenhaus verbringen. Ich war auch froh, dass Sohn „aufgeräumt“ und abgelenkt war. Alles besser als das Chaos und die Verzweiflung, die bei uns zu Hause herrschten.

Am Tag als Sohn nach Sylt fuhr, erfuhr ich im Krankenhaus, dass es für Michael keine Heilung geben wird und dass er sterben wird. Ich habe Sohn abends auf Sylt angerufen, meine Freundin, die ihn betreute, wartete im Nebenzimmer. Ich hatte sie vorher darüber informiert, was ich Sohn sagen würde. Natürlich fand ich es furchtbar, Sohn am Telefon sagen zu müssen, dass sein Vater sterben wird. Ich konnte ihn nicht in den Arm nehmen und trösten. Das hat meine Freundin übernommen. Aber ich wollte nicht nach Sylt fahren und Michael in Hamburg alleine zurücklassen. Ich wollte auch nicht Sohn wieder zurück nach Hamburg ordern. Ich habe ihn gefragt, ob er seinen Vater noch einmal sehen möchte. Er wollte nicht. Und ich war froh darüber, denn Michael sah man an, dass es ihm schlechter ging.

Zwei Tage später starb er, in der Nacht zum Vatertag. Wieder musste ich am nächsten Tag telefonieren. Und ich war wieder nicht da, um meinen Sohn in den Arm zu nehmen und zu trösten. Das hat wieder unsere Freundin übernommen, mit ihrer Familie und Freunden. Mittags fuhren sie an Michaels Lieblingsstrand, hielten sich fest im Arm, sammelten Sand und gingen anschließend in einem unserer früheren Lieblingsrestaurants essen. Und Sohn hat mit gutem Appetit gegessen. Als meine Freundin mir Bilder vom Strand und aus dem Restaurant schickte und beschrieb, dass er den ganzen Fisch verspeist hatte, fasste ich so etwas wie Hoffnung. Ich dachte: Sohn und ich, wir können diese Katastrophe überleben. Wir können das schaffen. Der Sand kam in Michaels Grab.

Ein Gedanke zu „Papa wird sterben

  1. Ingrid Renner

    Ich weiß genau was Du meinst. Mein Sohn stand neben mir, sls ich ihm die Nachricht überbracht habe. Und Ich habe ihn die ganze Nacht im Arm gehalten. Ich habe mir in dieser Nacht geschworen, dass ich uns irgendwie heil an Leib und Seele aus diesem Schlamassel bringe. Und trotzdem ist es ein sehr langer, harter und steiniger Weg.
    Unbeschadet kommt keiner durchs Leben. Aber es gibt tiefe Wunden, die niemals verheilen. Die Schmerzen verursachen, die unerträglich sind und doch ertragen werden müssen. Es gibt Momente im Leben, nach denen nichts mehr ist, wie es einmal war. Wo man nie mehr der sein wird, der man mal war. Immer stark sein muss für das Kind. Wie lange reicht die Kraft, das Kind mit dem Kopf „über fer Wasserkante“ zu halten, wenn man selber das Gefühl hat, unterzugehen? Wir sind jetzt im dritten Jahr des Überstehens.

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