Ich kann es nicht mehr hören

Gerade stolpere ich wieder über einen Beitrag zum Thema Witwe/Witwer und neuer Partner/neue Partnerin.

https://www.augsburger-allgemeine.de/themenwelten/leben-freizeit/Hinter-der-Trauer-junger-Witwer-wartet-die-Zukunft-id52241641.html

Die in dem Artikel zitierten Experten seien sich angeblich in der Meinung einig: Ehe eine neue Partnerschaft eingegangen wird, müsse die Trauerarbeit abgeschlossen sein. So ein Schwachsinn!

Woher soll ich denn wissen, wann meine Trauerarbeit genau abgeschlossen ist? Gibt es dafür irgendeinen allgemein gültigen Leitfaden? Gibt es konkrete Tipps? Ich kann es wirklich nicht mehr hören. Meiner Meinung nach begleitet einen Trauer ein Leben lang. Und das ist auch ok so. Wir denken ja auch ein Leben lang an den Verstorbenen. Wenn ich an Michael denke, muss ich manchmal lächeln, manchmal weinen, manchmal diskutieren wir einfach in Gedanken. Ist meine Trauerarbeit jetzt abgeschlossen? Oder stecke ich noch mittendrin? Wer gibt mir denn das ok?

Als ich meinem jetzigen Mann außerhalb des Krankenhauses wieder begegnet bin, war Michael gerade mal 4 Monate tot. Ich war in einer absolut frischen Trauer. Und dennoch habe ich mich aus dem Nichts heraus plötzlich wieder verliebt. Völlig überraschend und ungeplant. Das ist jetzt vier Jahre her. Wir haben seitdem geheiratet und noch ein Kind bekommen. Unser gemeinsames Leben als Familie zu viert ist ein großes Glück für meinen Sohn und mich, auch für meinen Mann und unsere Tochter.

Ich bin froh, dass ich damals auf mein Bauchgefühl gehört habe. Vielleicht konnte ich das nur, weil ich von Anfang an mit Michael Gespräche geführt habe. Am Grab, nachts wenn ich alleine im Bett lag und total verwirrt war von meinen Gefühlen. Und er hat gesagt: Machen.

Jede neue Liebe birgt ein Risiko und ich sage offen, in meiner neuen Partnerschaft plagen mich manchmal Ängste, die ich früher nicht hatte. Aber das soll mich nicht zurückhalten. Ich habe nur ein Leben und ich lebe mein bestes Leben jetzt. Nicht irgendwann mal.

4 Gedanken zu „Ich kann es nicht mehr hören

  1. munin und hugin

    Hallo Miriam,

    als ich im benannten Artikel das Wort „Experte“ entdeckte, musste ich sofort schmunzeln. Dieter Hildebrandt und Werner Schneider haben in ihrem letzten gemeinsamen Programm (Ende der Spielzeit) einen Sketch über das Expertentum dargeboten und sich damals über diese Besserwisser lustig gemacht. Heute würde man von Beratern sprechen, die vor allem hohe und ungenannte Honorare erhalten.

    Meine Trauer gehört vor allem erst einmal mir und nicht einmal ich weiß, wo ich in meiner Trauer stehe. Das ist kein lineares Fortschreiten. Das kann auch eine Kreisbewegung sein. Wichtig ist mir die Beziehung zu meiner verstorbenen Frau nicht einfach abzulegen wie einen verbrauchten Mantel. Ich werde diesen Kontakt bis zum Ende meiner Tage leben, auch wenn ich aktiv eine neue Partnerin suche (und womöglich bereits gefunden habe).

    Wenn es für mich Probleme bei neuen Beziehungen gab und gibt, dann vor allem durch die Alltagsstrukturen. Räumliche Trennung, berufliche und private Einbindungen, es gibt leider viel Gründe, weshalb man sich nicht sehen kann. Erreichtes möchte und kann man nicht einfach aufgeben.

    Es gibt also keinen eindeutigen Weg, den mir ein Experte benennen könnte. Jeder muss sich da selbst orientieren und auch das Bauchgefühl spielt dabei eine entscheidende Rolle. Das Herz muss dabei sein, wenn man mit einem neuen Partner zu einem Miteinander finden will. Und Gewissheiten gibt es für uns Lebende ohnehin nicht.

    LG Herbert

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  2. laufgurke

    Hallo Miriam,

    jaja, die Experten. Aber nicht nur die haben ja die ultimativen Tips, wie wir trauernden am besten zu funktionieren haben. Auch das Umfeld weiß ja ganz genau, was zu tun und zu lassen ist. „Du musst jetzt aber“ oder „du kannst doch nicht“… ich kann es nicht mehr hören. Ich habe einen Pullover und eine Tasse mit dem Spruch „N’Scheiß muss ich“. Den ziehe ich an wenns mir schlecht geht und koch mir einen Kaffee. Immer wenn ich hier lese denke ich, „wie schön, dass sie jemanden gefunden hat, der die Trauer mit ihr teilt und das Glück zurück gebracht hat“. Ich gehe vermutlich nicht auf die Suche, aber wenn es da jemanden gäbe, der mich so nehmen will, wie ich gerade bin, würde ichs zu mindest versuchen. Obwohl ich mit meiner „Trauerarbeit“ noch nicht „fertig“ bin. Mein Schwiegervater ist vor 19 Jahren gestorben und ich glaube nicht, dass die Mutter meines Mannes mit trauern „fertig“ war und jetzt quasi wieder neu angefangen hat. Trauer verändert sich ja nur, sie tut nicht mehr so weh und irgendwann ist sie vielleicht auch nicht mehr so präsent, aber sie bleibt doch da. Ich schaue neidlos, aber voller guter Gedanken auf deine neue Liebe, dein 2. Leben.
    Liebe Grüße
    Gritt

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  3. Witwesk

    Liebe Miriam,

    fast alle „Experten“ und „Expertinnen“ berufen sich meiner Lektüre- und Vortragserfahrung nach, wenn sie den Begriff „Trauerarbeit“ in ihren dicklippigen Mündern wälzen, auf Sigmund Freud (dessen ungeheuerliche Arbeitsleistung im Bergwerk der menschlichen Psyche ich übrigens sehr schätze).

    Der aber schreibt 1928, acht Jahre nach dem Tode seiner (vielleicht Lieblings-)Tochter, und fünf Jahre nach dem Tod seines mit knapp 5 Jahren verstorbenen Enkels ‚Heinele‘ (dem Sohn jener Tochter), den er innigst lieb gehabt hatte, im Gedenken an diese Tode und an diese Toten einem Freund (1928): „I became tired of life permanently.“

    Und ein Jahr später schreibt er einem Kollegen und Freund nach dem Tod dessen Sohnes: „Man weiß, dass die akute Trauer nach einem solchen Verlust ablaufen wird, aber man wird ungetröstet bleiben, nie einen Ersatz finden. Alles, was an die Stelle rückt, und wenn es sie auch ganz ausfüllen sollte, bleibt doch etwas anderes. Und eigentlich ist es recht so. Das ist die einzige Art, die Liebe fortzusetzen“.

    Beide Aussagen finde ich persönlich stimmig.
    Seit dem Tod des Lebensmenschen bin ich dauerhaft des Lebens müde.
    Es gibt keinen Trost, keinen Ersatz.
    Doch selbst bei mir ist anderes an diese „Stelle“ gerückt – kein Mensch, aber ein Behelfsjob, ein Deckchair auf dem Balkon im Sommer, und immer noch ein Traum vom Schreiben.

    Und jetzt, bald neun Jahre nach dem Tod, kann ich zwar nicht sagen, dass es „recht so“ sei, aber durchaus, dass es „die einzige Art, die Liebe fortzusetzen“, ist.
    Auch unsere Liebe ist dabei, sich zu entäußern.
    Sie zieht von uns ab und in die Welt, aus der sie einst zu uns kam.
    (Es fühlt sich manchmal an, als würde mir die Haut abgezogen.
    Aber das ist schon recht so.)

    Mir übrigens hat man es zum Vorwurf gemacht (und macht es immer noch), dass ich keinen neuen Partner haben möchte.
    – Wie man es auch macht im Witwesk: Es ist verkehrt.

    Einen Gruß aus der Ferne
    Corinna

    PS: Aus Erfahrung weiß ich, dass ich bei diesem Thema meist anecke. Wenn ich hier nerve, lass es mich einfach wisssen, auch das ist dann schon recht so.

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  4. Katta

    Liebe Miriam,
    mir gefällt die Antwort deines verstorbenen Mannes, die letztlich deine eigene ist: Machen! Gerade die Verwitweten wissen es ganz genau. Leben ist endlich! Du machst es richtig und jeder andere Verwitwete, der einen anderen selbstbestimmten Weg geht, macht es genau so richtig. Ich glaube, jeder Verwitwete kennt die unwissenden Mitmenschen in seinem Leben, die nichts als oberschlaue Ratschläge geben und das sind viele. 😉 Ich kann es auch nicht mehr hören! Deswegen gehe ich konsequent meinen eigenen Weg und lasse auch diese Menschen zurück – wenn es sein muss.

    LG Katta

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